Die sozioökonomische Transformation
Springer Gabler, 2021
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Die Systemtheorie ordnet Regeln in sozialen Systemen eine bedeutende Aufgabe zu: Sie steuern soziales Handeln und geben Anweisungen über erwünschtes Verhalten. Indem sie die Menge aller möglichen Verhaltensmuster auf eine überschaubare Anzahl an gewünschten Optionen einschränken, dienen sie der Vereinfachung und reduzieren so die Komplexität. Gleichzeitig erleichtern sie aber dadurch, dass sie ein Set von bevorzugten Handlungsweisen vorgeben, in schwierigen Situationen die Entscheidungsfindung. Das wiederum gibt denjenigen, die innerhalb dieses Systems Entscheidungen treffen müssen, einerseits ein größeres Gefühl von Sicherheit (Unsicherheitsreduktion) und steigert andererseits ihre Effizienz bei der Entwicklung von Lösungen. Werden Regeln in einem System erfolgreich angewendet, so stellen sie auch einen Erfahrungswert dar. Dadurch erfüllen sie eine „Speicherfunktion“ und werden zu einer Form von kollektivem Gedächtnis oder einer Art Wissensdatenbank der Organisation, aus der Neuankömmlinge etwas lernen können.
Moderne Organisationen, in denen beispielsweise ein Produkt gefertigt oder eine Dienstleistung angeboten werden, funktionieren für gewöhnlich arbeitsteilig. Das heißt, sie bestehen aus verschiedenen Untersystemen, die jeweils eine bestimmte, ihnen zugewiesene Aufgabe erfüllen. Um die Kooperation und Koordination der einzelnen Funktionsbereichen zu strukturieren und Informationsflüsse sicher zu stellen, sind Regeln notwendig. Derartige Regelsysteme dienen den in einem sozialen System arbeitenden Menschen als Orientierungshilfe und sollen gewährleisten, dass jeder Teilbereich nicht nur seine Position und Funktion in der großen Gesamtorganisation kennt, sondern auch weiß, welche Leistung er dafür zu erbringen hat und welche Voraussetzungen er erwarten darf. Über diese ursprüngliche strukturgebende Aufgabe sind Regeln mittlerweile bereits weit hinausgewachsen. Selbstverständlich findet man in unseren Organisationen noch immer derartige Regelungen, Gebote und Verbote, die in unserer modernen Wirtschaftssprache „Prozess“ und „Prozessbeschreibungen“ genannt werden.
Soweit, so gut. Was lernen wir daraus? Regeln sind prinzipiell gut, sinnvoll und auch notwendig. Doch jetzt kommt das große ABER….. Denn Regeln haben inzwischen eine über ihre ursprüngliche Funktion hinausgehende, zusätzliche Aufgabe übernommen. Sie sollen das Vertrauen der Kunden in ein Unternehmen oder in eine ganze Branche bzw. auf einer übergeordneten Ebene das Vertrauen der Gesellschaft in das Wirtschaftssystem sicherstellen. Konsumenten sollen aufgrund gewisser Regel-Zertifikate – das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist sicherlich das ISO9000 Quality-Management – in die Qualität eines Produkts oder, aufgrund veröffentlichter CSR-Regelungen, in die ethische Grundhaltung eines Unternehmens und in dessen verantwortungsvollen Umgang mit allen Stakeholdern vertrauen können. Nationalstaaten wiederum sollen anhand von Finanzmarkt-Regulierungen darauf vertrauen können, dass sich Banken nicht in eine finanzielle Schieflage bringen.
Dieses Bedürfnis unserer Gesellschaft nach einer Rundumabsicherung gegen möglichst viele verschiedene Risiken hat nicht nur Rechtsexperten reich gemacht, sondern obendrein zu einer Fülle an weiteren Regeln und Regelungen geführt, die für Außenstehende weder überschaubar noch in ihrer Sinnhaftigkeit im Detail erkennbar sind. Damit hat das Regelsystem eine gewisse Eigendynamik entwickelt und Detailregeln entworfen, die teilweise für sich genommen weder eine konkrete Aussage treffen noch einen konkreten Bezugsrahmen haben und dadurch genau das Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention erreichen: Sie führen zu massiver Verunsicherung. Genauso wie uns kollektiv das Effizienzparadigma entglitten ist (wie wir es im Detail im vorangegangenen Kapitel beschrieben haben), hat auch unsere Regel-Hörigkeit mittlerweile eher lähmende als förderliche Ausmaße angenommen. Wir machen uns unsere Organisationen selbst immer komplizierter und gehen in Regeln und deren Kontrolle unter. Denn ein System, das hauptsächlich mit sich selbst und seinen eigenen Kontrollsystemen beschäftigt ist, kann seine eigentliche Aufgabe kaum mehr richtig erfüllen.
Wir sind mittlerweile sogar so weit gegangen, dass wir neue Organisationen oder Institutionen geschaffen haben, deren alleinige Existenzberechtigung es ist, der von uns selbst eingeführten Regelflut wieder irgendeine Form von Sinn zu geben. Derartigen Absicherungsmechanismen begegnet man sowohl auf unternehmerischer als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene. Denn damit Regeln tatsächlich Vertrauen schaffen können, muss ihre Einhaltung auch kontrolliert werden. Auf Unternehmensebene braucht es dazu entweder außenstehende, vermeintlich unabhängige und damit vertrauenswürdige Kontrollinstanzen (wie beispielsweise den TÜV) oder auch unternehmensinterne Instanzen (wie beispielsweise Qualitäts- oder CSR-Stabstellen), die direkt an die Geschäftsleitung angeschlossen sind bzw. die interne Revision, die in Konzernen sogar über der jeweiligen Geschäftsleitung steht.
Als Konsumenten verdanken wir der angsteinflößenden Unüberschaubarkeit der globalen Wirtschaft eine Vielzahl von Institutionen (mit einer noch größeren Menge an Qualitäts-Siegeln), deren Aufgabe zwar die Einhaltung von Regeln ist, die aber über ihre Kontrollfunktion hinausgehend auch noch als eine Art Schiedsrichter zwischen Konsument und Wirtschaft wirken. Offensichtlich ist es bequemer, die Einhaltung von Regeln an Institutionen abzugeben, als den eigenen Hausverstand einzuschalten. Statt sich selbst eine eigene Meinung zu einem neuen Angebot oder Produkt zu bilden und damit eine eigene „Vertrauensbasis“ zu entwickeln, leben wir als Konsumenten mit einer systemisch tief verankerten Entmündigung. Denn alles, was ein Qualitätssiegel oder irgendeine Auszeichnung trägt, muss natürlich automatisch „besser“ sein und die Anzahl der Personen und Spezialisten, die dieses System der Regeln verstehen und beherrschen – die sogenannten Experten – wird immer größer. Damit dreht sich die Spirale der Entstehung von neuen Regeln und Regelorganisationen unaufhörlich und immer schneller weiter, ohne dass dabei für den Einzelnen ein deutlich erkennbarer Fortschritt erzielt wird.
(Das ist ein Vorabdruck aus dem Kapitel 2 „Die systemische Perspektive“ von Anja Kossik und Karl Hitschmann aus „Die sozioökonomische Transformation“. Vervielfältigt mit Genehmigung von Springer Gabler. Die finale authentifizierte Version ist online verfügbar unter: https://www.springer.com/de/book/9783662629499)