Binnenmärkte des Vertrauens


Das ist ein Vorabdruck aus dem Kapitel 4 – „Der Schritt in die Umsetzung“ – von Anja Kossik und Karl Hitschmann aus folgendem Werk:

Die sozioökonomische Transformation
Springer Gabler, 2021

Vervielfältigt mit Genehmigung von Springer Gabler. Die finale authentifizierte Version ist online verfügbar unter: https://www.springer.com/de/book/9783662629499

Hier begegnen wir also einem großen, in seinen Ausmaßen heute beinahe unvorstellbaren Potenzial zur Steigerung der Produktivität.

Kossik + Hitschmann, Die sozioökonomische Transformation

Beseitigung sozialer Unordnung

Wir haben ja bereits postuliert, dass die Weitergabe von Informationen und Wissen in Meetings extrem unproduktiv erfolgt. Weshalb ist das so? Typische Meetings binden jede Menge Ressourcen. Üblicherweise sitzt eine ganze Menge Menschen über längere Zeit in einem (auch virtuellen) Raum. Einer spricht/präsentiert, alle anderen hören zu. Die Zuhörer haben obendrein noch ihre psychosozialen Filter eingeschaltet. Menschen bewerten nämlich sämtliche empfangenen Informationen laufend auf Basis ihrer Kongruenz zu ihren eigenen Erfahrungen und filtern nur jene Teile heraus, die nützlich, korrekt und relevant erscheinen. Das führt auf der einen Seite dazu, dass zwar alle im gleichen Meeting sitzen, aber jeder Zuhörer potenziell einen anderen Inhalt empfängt und abspeichert. Auf der anderen Seite werden Meetings als langatmig und wenig nutzenbringend wahrgenommen, auch weil ihre Anzahl mittlerweile überbordend ist.

Hier beobachten wir wieder einmal ein eindeutiges Symptom der Systemkrise und reiten das bereits tote Pferd: Wir versuchen mit noch mehr Meetings noch mehr an Information zu transportieren, ohne dabei die oben beschriebenen psychosozialen Filter zu berücksichtigen. Die Gesetzmäßigkeiten von Meetings lassen sich aber auch auf Projekte und andere Formen der sozialen Zusammenarbeit umlegen. Die Verschwendung von Zeit und Energie setzt sich dort fort und führt oft zu Misserfolgen. Um diese Form sozialer Unordnung zu beseitigen, müssen also Filter und andere Kommunikationsbarrieren beseitigt werden, die im Wesentlichen auf unzureichendem Vertrauen sowie auf unterschiedlichen Motiven und Absichten zwischen Personengruppen basieren. Derartige Vertrauensbarrieren entstehen innerhalb eines Unternehmens gerne zwischen verschiedenen Gruppen bzw. Fachbereichen und führen dort durch mangelhaften Austausch von Expertise und Fachwissen zu Formen des Silodenkens. Gleiches gilt auch für die Vertrauensbarrieren zwischen verschiedenen Hierarchieeben wo das Zurückhalten von Information einerseits als Machtinstrument eingesetzt werden kann, andererseits als Schutzmaßnahme dient.

Binnenmärkte des Vertrauens entwickeln

Was können aber Führungskräfte ganz konkret leisten, um einen offenen und vertrauensvollen Umgang miteinander zu fördern? Sie können in ihrem eigenen Einflussbereich sogenannte „Binnenmärkte des Vertrauens“ schaffen und aktiv an der Entstehung und dem Ausbau solcher Binnenmärkte arbeiten. Dazu steht eine Menge an teambildenden Maßnahmen zur Verfügung, die mit geringem Aufwand leicht anzuwenden sind. Wichtig dabei ist aber, dass diese Binnenmärkte regelmäßig gepflegt werden. So könnte etwa ein Viertel der Zeit in den ohnehin schon stattfindenden Jours Fixes in Vertrauensbildung investiert werden. Wir müssen allerdings zur Klarstellung darauf hinweisen, dass weder der Bericht über die Freizeitaktivitäten des vergangenen Wochenendes noch der gemeinsame Bau eines Floßes im alljährlich stattfindenden Teambuilding-Workshop in diese Kategorie fallen. Da braucht es schon mehr. Vertrauen muss ständig genährt, gefördert und ausgebaut werden, weil das soziale System eines Binnenmarkts im Alltag immer wieder Irritationen und Querschlägen ausgesetzt ist. Dafür entwickelt sich in Binnenmärkten des Vertrauens und der gegenseitigen Wertschätzung häufig eine positive Eigendynamik. Derartige Teams beginnen irgendwann von allein ihren Binnenmarkt zu füttern und fordern einen solchen Umgang auch von anderen ein. Dadurch können an vielen Stellen eines Unternehmens kleine Binnenmärkte entstehen, die wiederum an ihren Grenzen zu anderen Binnenmärkten, Abteilungen oder Fachbereichen weiter an einer gemeinsamen Vertrauensbasis arbeiten werden.

Ein weiteres Handlungsfeld zu Stärkung der Vertrauensbasis in Organisationen sind fachbereichs- und hierarchieübergreifende Projekte. Hier kann das Überwinden des vorher beschriebenen Silo- und Hierarchiedenkens, gruppendynamischer Prozesse oder persönlicher Ressentiments zwischen einzelnen Projektteilnehmern zu einer Herausforderung werden. Denn gegenseitige Vorbehalte und Vorwürfe oder das Zurückhalten von kritischem Wissen gehört in der Praxis noch immer zum Projektalltag. Keine guten Voraussetzungen, um ein gemeinsames Projektziel im vorgegebenen Zeit- und Budgetrahmen zu erreichen. Je komplexer ein Projekt – und das gilt sowohl für die Projektaufgabe als auch für die Zusammenstellung des Projektteams – desto öfter hören wir in unserer Beraterpraxis von doppelt so langen Projektlaufzeiten, doppelt so hohen Budgets wie ursprünglich geplant.

Die Lösung für ein effizientes und effektives Projektmanagement ist daher nicht nur in einer stringenten Projektplanung zu finden, sondern auch in der Etablierung eines psychosozial gesunden Arbeitsumfeldes, eines Projekt-Binnenmarkts sozusagen, in dem gegenseitiges Vertrauen und Offenheit herrscht. Gelingt es, derartige Projekt-Binnenmärkte zu etablieren, kann man davon ausgehen, dass sich der positive Effekt beim Erreichen einer kritischen Masse über das gesamte Unternehmen verteilt. Auf diese Weise können auch in großen Unternehmen Projektleiter und Führungskräfte zusammen systematisch für eine soziale Ordnung sorgen, die sich auf eine psychosozial gesunde Umgangsweise stützt. Die Transaktionskosten für die Weitergabe von Informationen im Unternehmen würden sich massiv reduzieren, das bestehende Wissen könnte produktiv eingesetzt werden, Projekte und Meetings würden eine ganz neue Gestalt annehmen. Dieser Produktivitätsgewinn wird vor allem zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem global stattfindenden Wettbewerb um Informationen zu einem kritischen Erfolgsfaktor. Je besser Unternehmen darin werden, sämtliche Informationen und verfügbares Expertenwissen rasch, unkompliziert und vor allem ungefiltert an jene Stellen des Unternehmens zu transferieren, an denen sie gerade benötigt werden, desto größer wird ihr Marktvorsprung sein.

Praxistipp

Dass der Ansatz, psychosozial gesunde Binnenmärkte zu entwickeln, nicht nur in der Theorie funktioniert, wissen wir aus vielen unserer Beratungsprojekte. Wir versuchen in jedem Projekt durch eine entsprechende Vorbereitung und Einführung eine gemeinsame Vertrauensbasis zu etablieren. Bevor wir uns also an die Inhalte eines Projektes wagen, investieren wir ausreichend Zeit in eine gemeinsame Arbeitsgrundlage im Projektteam, in gleiche Ausgangs- und Motivlagen, in gemeinsame Ziele und Absichten und natürlich auch in ausreichend Offenheit, Transparenz und Augenhöhe.

Führen Sie vor dem Start eines Projektes Einzelinterviews mit allen Teilnehmern. Nicht nur zum Projektziel, sondern auch zu den individuellen Ausgangslagen und Erwartungshaltungen. Und entwickeln daraus eine Reihe von Arbeitshypothesen, die Sie am besten gleich zum Projektstart offen mit dem Projektteam besprechen. Dann haben Sie bereits den ersten Schritt in eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gelegt. Vergessen Sie aber nicht darauf, diese „Team-Verortung“ im Projektverlauf öfters zu wiederholen. 

In unserer Praxis investieren wir, je nach Projektkomplexität, 20 bis 30 Prozent unseres gesamten Projektaufwandes in das Herstellen und die Pflege eines vertrauensvollen Projekt-Binnenmarktes. Dafür ernten wir auch die entsprechenden Früchte in Form von zügigen Projektfortschritten in der Sache und einer 95%igen Erfolgsquote bei den Ergebnissen. Und noch eines beobachten wir: Die meist hochspezialisierten Fach- und Führungskräfte, die Teil unserer Projekte sind, lassen sich von dieser Vertrauensbildung anstecken und streben ab einem gewissen Punkt selbst nach einem vertrauensvollen Umfeld in Ihrer eigenen Fachabteilung oder anderen Projekten. 

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