Zum Jahreswechsel:
We do not let go of control…

Ein Zitat von David Richo, einem amerikanischen Psychotherapeuten, welches wir dem Kapitel über ein angstfreies Leben vorangestellt haben. In Zeiten des langen Friedens und sozialer wie wirtschaftlicher Sicherheit hat sich offenbar ein dramatischer Irrglaube in unsererem westlichen Denken eingeschlichen … >> hier weiter zum Auszug aus unserem Buch


Tatsächlich lernen wir aus den Krisen der letzten Jahre, der Bankenkrise, der Flüchtlingskrise und nun aus der Corona-Krise, dass wir in Zeiten des Umbruchs keine Kontrolle über Ereignisse haben, die unser unmittelbares Umfeld und somit auch unser berufliches oder privates Leben beeinflussen. Nach jahrzehntelanger wirtschaftlicher und sozialer Stabilität müssen wir nun feststellen, dass unser Glaube „alles unter Kontrolle zu haben“ Risse bekommt. Dabei hatten wir natürlich nie wirklich eine Kontrolle über das weltpolitische oder wirtschaftliche Geschehen. Aber wir wollten den Leitern und Lenkern nur allzu gerne Glauben schenken, dass es so wäre. Wir wollten diesen Glauben, Kontrolle zu haben, nur allzu gerne aufrecht erhalten, weil es uns in eine wohlig warme Sicherheit hüllt. Und einen solch kuscheligen Zustand hinterfrägt man nicht gerne: möge der Moment doch ewig anhalten.

Woran sollen wir also nun glauben? Wie soll es weitergehen?

Dazu haben sich scheinbar zwei grundlegend unterschiedliche Glaubensgemeinschaften gebildet:

Jene, welche die Vorkommnissen der letzten Jahre als völlig unzusammenhängende Einzelereignisse betrachten und mit neuen Regelungen, fachlicher Expertise und viel Geld aus der „öffentlichen Hand“ bekämpfen und deren Auswirkungen zu mildern versuchen. Also der Kampf für Stabilität und Kontrolle. Der Versuch das Chaos zu beherrschen. Denn schließlich können Banken nichts mit Flüchtlingen und Pandemien gemein haben. Das sind alles singuläre Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben – und auch (gemeinsam) bewältigen können.

Und dann gibt es die „Verschwörer“, die meinen dass diese Ereignisse einem Muster folgen. Die über die sachlichen Auswirkungen hinaus einen größeren Zusammenhang in all diesen Krisen sehen. Und auch Schuldige dafür suchen: sei es die Globalisierung, die wir selbst zu verschulden haben oder ein Gruppe von „Weltenbeherrschern“, die uns diese Krisen gezielt verordnen um einem höheren oder auch eigennützigen Ziel zu dienen.

Es scheint also eine Glaubensfrage zu sein, ob wir weiterhin alles unter Kontrolle haben oder bereits kontrolliert werden – von wem oder was auch immer. Beide Glaubensrichtungen basieren aber weiterhin auf diesem einen grundlegenden Denkfehler: nämlich dass wir oder irgendwer oder irgend etwas Kontrolle hat. Das lässt uns scheinbar zumindest die Hoffnung, dass wir es mit den richtigen Maßnahmen reparieren können. Sei es indem wir die Schuldigen ausfindig machen und sie neutralisieren oder mit neuen, noch höhere Sicherheitsmauern um unsere Nationalstaaten herum.

Aber ist es nicht geradezu anmaßend immer noch zu denken so etwas wie Kontrolle über die Entwicklung der Dinge zu haben?

Auch wenn wir seit der Aufklärung erfolgreich versuchen die Naturgesetzte und die Zusammenhänge wissenschaftlich zu ergründen, müssen wir dennoch demütig feststellen, wie wenig wir über deren Funktionsweise verstehen. Wir werden in naher Zukunft weitere Erkenntnisse aus der Forschung erhalten, die unser heutiges Weltbild – wie schon zu Zeiten des Kolumbus – auf den Kopf stellen. Mit solchen Aussichten ist es nicht angebracht zu denken wir haben die Welt bereits verstanden und können sie kontrollieren. Auch wenn wir stetig darin besser werden, müssen wir uns bis auf weiteres damit begnügen auf neue, ungeplante Situationen und Herausforderungen zu treffen und uns darauf einzustellen. Und das wird uns leichter fallen, wenn wir akzeptieren keine Kontrolle über die Zukunft und den Lauf der Dinge zu haben.

In diesem Zusammenhang fällt zwangsläufig das Wort „Agilität“ ein.

Im Grunde ist Agilität ein Konzept, dass Organisationen dabei helfen soll sich auf genau solche, neue Situationen einzustellen. Auf Unplanbares sowie auch auf die rasche Veränderung bei Kunden- und Mitarbeiterbedürfnissen oder im Marktumfeld. Sich also in gewissen Bereichen von tradierten, linearen Vorgehensweisen abzuwenden und den Veränderungen aktiv zu folgen.

In der beruflichen Praxis scheint aber die Agilität als neues Synonym oder neue Methode für die Beherrschbarkeit der Zukunft herhalten zu müssen. Also im wirtschaftlichen Denkrahmen der Stabilität und Kontrollfähigkeit das Neue und Unplanbare „in den Griff zu bekommen“. Agilität steht aber nicht für ein Set an Methoden, die uns Helfen wieder den Glauben an die Kontrolle zurück zu bekommen, sondern für ein neues Denk- und Verhaltenskonzept, welches davon ausgeht keine Kontrolle zu haben.

Das bedeutet in der betrieblichen Umsetzungen nicht – wie heute zu beobachten – neue Prozesse, Methoden, Titel und Funktionen einzuführen, sondern im Management und mit den Mitarbeiter*Innen aktiv daran zu arbeiten mit Unsicherheit und Veränderung besser umgehen zu können. Bevor wir also in neue organisatorische Konzepte einsteigen, müssen zuerst alle Verantwortlichen und Betroffenen eine Sprung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung machen. Vernachlässigen Unternehmen diesen „Bewusstseinssprung“, werden agile Prozesse und Methoden nicht greifen, neue Managementtitel auf verlorenem, ja teils sogar belächelten Posten stehen.