Das ist ein Vorabdruck aus dem Kapitel 3 – „Wir wagen einen Blick in die Zukunft“ – von Anja Kossik und Karl Hitschmann aus folgendem Werk:
Die sozioökonomische Transformation
Springer Gabler, 2021
Vervielfältigt mit Genehmigung von Springer Gabler. Die finale authentifizierte Version ist online verfügbar unter: https://www.springer.com/de/book/9783662629499
We do not let go of control,
David Richo, Five True Things
we let go of the belief that we have control.
Vorhersehbarkeit, Planbarkeit und Stabilität sind wahrscheinlich die drei größten Trugbilder, die sich ein Magier hätte ausdenken können, um eine Gesellschaft in seinen Bann zu ziehen. Jeder Person aber auch Institution, die völlig direkt oder eher subtil die Illusion von der Kontrollierbarkeit äußerer Umstände verspricht, sollten wir mit höchster Vorsicht begegnen. Eine derartige Person ist entweder sehr naiv und unerfahren, oder sie ist es nicht. In diesem Fall ist erhöhte Vorsicht geboten, denn dann sollen wir bewusst geblendet oder manipuliert werden. Man will unser Vertrauen erheischen oder uns einfach nur in einen flauschigen Käfig sperren. Denn der Wunsch unserer Gesellschaft, Unplanbares beherrschbar zu machen und Ordnung im Chaos zu finden, scheint grenzenlos zu sein. Und viele, sehr viele Menschen glauben nicht nur an diese Art von Kontrolle, sondern sie investieren auch unglaublich viel Zeit, Geld und Aufwand, um einen solchen Idealzustand zu erzielen und zu erhalten.
Zwei unserer zentralen Lebensbereiche haben dieses Bedürfnis nach Kontrolle über Jahrzehnte hinweg perfektioniert. Da wäre zum einen die Wirtschaft: Banken, Versicherungen, Trendforschung und viele andere Branchen haben Planbarkeit und Risikominimierung zu ihrem zentralen Geschäftsmodell gemacht. Die Labels „Sicherheit“ und „Zuverlässigkeit“ kleben aber heute schon an unzähligen anderen Produkten und Dienstleistungen. Zwischenzeitlich baut aber zum anderen auch unser Gesellschaftssystem auf dem Glauben an die Kontrollierbarkeit auf. Nationalstaatliche und überregionale Gesetze dienen nicht mehr nur der Regelung unseres Zusammenlebens, sondern versprechen uns in erster Linie Stabilität und Sicherheit. In einem gewissen Umfang und unter beständigen Systembedingungen hat diese Illusionen auch auf lange Zeit gut funktioniert.
Hier lässt sich ein interessantes Phänomen beobachten: Mit zunehmender Stabilität haben wir nämlich eine latente Verlustangst entwickelt. Wir scheinen kaum mehr in der Lage zu sein, mit Unvorhergesehenem und Unplanbarem konstruktiv umzugehen. Durch fehlende Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielräume verliert das Leben seine Handhabbarkeit. Das wiederum führt zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht einem undurchschaubaren System gegenüber. Das macht Angst und diese Angst lähmt uns, vielleicht weil wir wissen, dass Regelwerke eine echte Schwachstelle haben – sie können jederzeit gebrochen werden. Vielleicht aber auch, weil wir gerade beobachten können, wie sich unsere vermeintlichen Sicherheitsnetze auflösen, wie Banken von Staaten aufgefangen werden müssen, wie die Bevölkerung eines Landes von den eigenen Machthabern missbraucht wird und wie Natur und Umwelt vor der Menschheit beschützt werden muss.
Wenn uns also Regeln und Gesetze nicht mehr verlässlich gegen Missbrauch und Verlust zu schützen, wie sonst könnten wir wieder angstfrei leben lernen? In einem ersten Schritt ist es sicher hilfreich, das Unplanbare und scheinbar Chaotische als gegeben hinzunehmen. So kann man nach und nach wieder lernen, mit Unvorhersehbarem umzugehen und es als Teil des Lebens zu akzeptieren. Schon der griechische Philosoph Heraklit war so weise zu erkennen, dass das einzig Konstante im Leben die Veränderung ist. Auch die Basisinnovation der 6. Welle kann uns dabei helfen, diese in der Zukunft immer wichtiger werdenden Fähigkeiten zu meistern. Als psychosozial gesunden Menschen wird es uns nämlich möglich sein, eine neue Situation aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten und ihr mit unterschiedlichen Verhaltensweisen entgegenzutreten. Wenn ich aktiv an meiner Perspektiven- und Verhaltensvielfalt arbeite, sozusagen das Unvorhersehbare ständig antizipiere, gewinne ich auch Zug um Zug an Selbstsicherheit und Gelassenheit im Umgang mit veränderlichen Rahmenbedingungen. So hole ich mir auch mutig das Gefühl von Handhabbarkeit zurück, das – wie in diesem Kapitel bereits früher diskutiert – wesentlich zu einer langfristigen Gesunderhaltung beiträgt. Auf diesem Weg ist es möglich, eine neue Selbstsicherheit abseits von Regeln und Gesetzen zu entwickeln und damit in einem hohen Maß angstfrei zu leben.